„Im Wald baden“ – was soll man sich als rational denkender Mensch darunter vorstellen? Klingt fast wie eine surrealistische, metaphorische Übertreibung. Aber die ist es keinesfalls. Es ist die poetische Formulierung eines mehr als sinnvollen Konzepts – ich erkläre dir im Folgenden warum:
Waldbaden ist in Europa und Nordamerika zu einem wahren Trend gewachsen, der eigentlich gar kein Trend sein müsste. Denn Waldbaden machen viele Menschen auf der Welt schon ein Leben lang ohnehin, nur vielleicht nicht immer so bewusst, wie es gemeint ist. Der Begriff wurde ursprünglich in Japan erfunden und das vor nicht mehr als 40 Jahren. Die japanische Regierung war nämlich der Auffassung (und das ist zwischenzeitlich sogar wissenschaftlich belegt), dass der Wald eine erholsame und beruhigende Wirkung auf den Menschen hat. Deshalb subventioniert Japan bis heute als medizinische Maßnahme das Shinrin Yoku, wie das Waldbaden auf japanisch korrekt heißt.
Dabei geht es nicht um eine esoterische Sicht oder die Suche nach Fabelwesen im Wald. Ganz im Gegenteil, es geht um die Wiederherstellung eines ganz ursprünglichen und „nackten“ Gefühls.
Wir alle sehnen uns von Zeit zu Zeit nach der allumfassenden Ruhe, einem Ort, an dem uns kein Handy-Klingeln oder irgendeine dringende Nachricht erreichen. Und ganz ohne uns dessen bewusst zu sein, steht dieser Ort schon immer bereit, er wächst und grünt vor sich hin, ohne sich als „Achtsamkeitspark“ , „Selbsterfahrungswelt“ oder „Wunderzauberwald“ zu promoten. Er ist einfach nur da und lebt.
Wann warst du zuletzt ausgiebig im Wald? Hast du dir die vielen unterschiedlichen Sinneseindrücke bewusst gemacht, die es dort zu erleben gibt? Wie fühlt sich die Rinde eines alten Baumes an und wie die eines jungen? Welcher Vogel singt über- und welcher zwei Bäume neben dir? Wonach riecht die, von verwelkendem Laub bedeckte, Erde, die du mit deinen Füßen aufwühlst?
Wir glauben, alle Erfahrung muss ein Event sein. Wir wünschen uns Highlights über Highlights. Bunte Lichter, Action, Entertainment. Aber unser Körper wünscht sich ganz oft etwas vollkommen anderes. Er wünscht echte Erfahrung. Die nicht künstlich erzeugt und beleuchtet wurde. Die nicht erst erschaffen und nach Effizienz bewertet wurde. Der Wald muss keinerlei Anstrengung auf sich nehmen, um uns zu beeindrucken. Er muss nur von uns als Wahrnehmung zugelassen werden.
Wir müssen, um ihn zu sehen, ihn zu fühlen nur zu ihm gehen und zulassen, dass wir nicht zum nächsten Fotoapparat, zum Smartphone oder zur Videokamera greifen. Wir dürfen im Wald gar nichts Müssen. Denn das ist der Sinn des Waldes in unserem Leben.
Die ungeschönte, prachtvolle und dabei so simple Ursprünglichkeit.
Hast Du dich schonmal getraut, alleine in ein Waldstück zu gehen? Ich gebe zu, es sollte vielleicht nicht in der Nacht sein – das ist dann was für die Mutigeren unter uns. Aber der Gang in das Herz eines Waldes kann einem kleinen Gang zu sich selbst schon ziemlich nahe kommen – wie ein Pilgerweg – ganz ohne Stigma oder Dogma. Wir sind umgeben von Natur, von den Pflanzen, die den Sauerstoff, den wir so dringend benötigen für uns ganz freigiebig und großzügig produzieren. Dabei fragen sie nicht: Und was bekomme ich dafür zurück? Sie sind einfach nur da und wachsen dem Code entsprechend, der in ihren Zellen angelegt ist.
In den Wald gehen bedeutet somit nicht nur „Gedanken tanken“. Es bedeutet „sich an sich selbst heranwagen“ und im wahrsten Sinne „frische Luft atmen“.
Besonders schön kann es sein, ein und den selben Fleck zu unterschiedlichen Jahreszeiten zu begehen und zu schauen, was sich dort alles verändert. Das kann von der Farbe der Blätter über die Spuren von Tieren über Pilze und Tierunterschlüpfe hin zu aller Art von Geräuschen ein ganz wunderbares, kostenloses und, bei richtiger innerer Erlaubnis, maßlos wunderbares Erlebnis sein.